Digitalisierungswüste Deutschland: Zwischen Abgehängtsein und einer Prise Hoffnung

Florian Marcus spricht mit uns über die kulturellen und technologischen Erfolgsfaktoren Estlands und ihre Übertragbarkeit auf deutsche Unternehmen.

Typ:
Blogartikel
Rubrik:
Strategie und Innovation
Themen:
Digitalisierung Verwaltung KI (Künstliche Intelligenz) Personal (Human Resources)
Digitalisierungswüste Deutschland: Zwischen Abgehängtsein und einer Prise Hoffnung

Florian Marcus ist ein renommierter deutscher Digitalberater, der derzeit in Estland lebt. Er unterstützt Länder auf der ganzen Welt dabei, digitale Gesellschaften aufzubauen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen, um weltweit führend im Bereich der Digitalisierung zu werden. Marcus weiß um die kulturellen und technologischen Erfolgsfaktoren Estlands, die als Modell für andere Länder dienen können. Seine umfassende Erfahrung und seine klaren Visionen machen ihn seit einigen Monaten auch in der deutschen Medienlandschaft zu einer führenden Stimme in der Diskussion über die Digitalisierung in verschiedenen Sektoren. In diesem Interview teilt er seine Perspektiven und Empfehlungen, wie deutsche Unternehmen von Estlands digitalem Fortschritt lernen und profitieren können. 

💬 Hear me speak: Seine Erfahrungen wird Florian Marcus am 5./6. November als Keynote-Speaker im Rahmen der GO.DIGITAL 2024 teilen.    

Ralf Jauch: Lieber Florian, Estland hat eine Kultur des Vertrauens und der Offenheit gegenüber digitalen Technologien entwickelt. Mit welchen Schritten könnten deutsche Unternehmen eine ähnliche Kultur schaffen, insbesondere im Umgang mit KI und sensiblen Energiedaten? 

Florian Marcus: Meiner Meinung nach ist Offenheit immer mit einem Nutzen für die verbrauchende Person verbunden. Die Frage ist: Wie kann ich der Bürgerin und dem Bürger verständlich machen, welche Vorteile beispielsweise ein Smart Meter für sie oder ihn hat? Es ist nicht so, dass alle Konsumierenden jeder technologischen Neuerung skeptisch gegenüberstehen. Millionen von Menschen benutzen tagtäglich Google Maps – dafür braucht es sekundengenaue GPS-Daten des Nutzers –, weil sie dadurch ein, zwei Minuten schneller ans Ziel kommen. Da fragen dann nur die wenigsten danach, was denn im Anschluss mit den eigenen Daten passiert oder zumindest wird es in Kauf genommen. Also: Kommunikation ist wichtig. Vorteile Aufzeigen ist essenziell.  

Zum Thema Vertrauen: Sobald das Interesse der Kundinnen und Kunden geweckt ist und sie eine Lösung aktiv nutzen, muss man diese Beziehung tagtäglich kultivieren. Sie muss ernst genommen werden. Cybersicherheit muss an erster Stelle stehen, offene Krisenkommunikation im Falle eines Problems ist extrem wichtig. Das sind alles keine neuen Erkenntnisse, aber man muss sich diese Prinzipien ins Gedächtnis rufen, wenn der Ernstfall eintritt und die Versuchung groß ist, das Problem unter den Teppich zu kehren. 

Ralf Jauch: Bei dir in Estland hat die Digitalisierung viele Verwaltungsprozesse revolutioniert. Die Energiebranche in Deutschland ist zwar privatisiert, aber nach wie vor eine durch den Gesetzgeber hochgradig regulierte Branche. Wie könnten deutsche Energieunternehmen von den estnischen Erfahrungen profitieren? 

Florian Marcus: Die Erfahrungen aus Estland kann man in zwei Aspekte aufteilen:  

  1. Wie ist das Verhältnis zwischen Energiebranche und Staat? Kann die Branche den Staat davon überzeugen, beispielsweise den Einbau von Smart Metern in Neubauten verpflichtend zu gestalten – und zwar landesweit, nicht nur in bestimmten Bundesländern? Der offene Austausch auf Augenhöhe ist enorm wichtig. 
  2. Internes Change-Management wird häufig unterschätzt. Die Führungsriege hört ein paar spannende Vorträge zum Thema Blockchain, Internet of Things oder Künstliche Intelligenz und versucht dann oft, diese Lösungen mit der Brechstange ins eigene Unternehmen zu treiben. Ganz abgesehen davon, dass all diese neuen Technologien nur selten die gewünschte Lösung zu bestehenden Problemen darstellen, werden die operativen Teile des Unternehmens nicht vernünftig auf diese Reise mitgenommen oder gar vorher befragt, ob das denn auch alles so Sinn macht, wie man sich das vorstellt.  

Dem einen oder anderen mag es aufgefallen sein: Die Erfahrungswerte aus Estland beziehen sich oft auf den Faktor Mensch und eher selten auf Technologie – die gibt es zwar rund um die Welt, aber sie werden nicht gleichmäßig eingesetzt. 

Ralf Jauch: Aus staatlicher Sicht muss die Interoperabilität verschiedener digitaler Systeme ein hohes Gut sein, damit der Austausch von Daten und die Abwicklung von Services für die Bürgerinnen und Bürger reibungslos stattfinden kann. Was kann Deutschland in diesem Bereich von Estland lernen und was sind die Hürden, wenn dafür eine Vielzahl von Unternehmen kooperieren muss? 

Florian Marcus: Der Staat muss in erster Linie ein gemeinsames Datenaustauschprotokoll schaffen, an das alle staatlichen Organisationen angeschlossen werden und das von allen für den verschlüsselten und automatisierten zwischenbehördlichen Datenaustausch genutzt wird. Gemeinsam mit einer Once-Only-Policy für das einmalige Abspeichern von Bürgerdaten kann so die Datenqualität über Personen und Unternehmen stark verbessert werden.  

Auf dieser Grundlage kann der Staat das Netzwerk für Privatunternehmen öffnen – diese können dann auf freiwilliger Basis beitreten und innerhalb der geltenden Datenschutzgesetze Daten mit anderen Teilnehmenden austauschen. Ein Beispiel: Die Banken in Estland sind alle freiwillig der sogenannten X-Road für den Datenaustausch beigetreten. Für die Eröffnung eines Kundenkontos oder im Rahmen von Kreditentscheidungen werden selbstverständlich Background-Checks durchgeführt: Hast du tatsächlich 3 Master-Studiengänge wie du es uns im Gespräch erzählt hast? Hast du schonmal eine Straftat begangen? Hast du Steuerschulden? Und anstatt, dass man diese Fragen entweder der Person oder den eigenen Mitarbeitenden mit auf den Weg gibt, kann man diese Informationen eben mit einem Mausklick von den jeweiligen Behörden einholen. 

So wie auch bei der ersten Frage in diesem Interview geht es nicht um Hürden und Zwänge. Offenheit wird durch Nutzen geschaffen. Wenn der Staat diesen Nutzen kreieren und verständlich machen kann, wird der Beitritt von Tausenden von Unternehmen zu einer Interoperabilitätsplattform kein großes Problem darstellen. 

Ralf Jauch: Welche Rolle spielt die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften im Bereich der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz in der Energiewirtschaft? Erinnerst du dich an erfolgreiche Bildungsinitiativen aus Estland, die auf Deutschland übertragen werden könnten? 

Florian Marcus: Ich würde hier nicht explizit die Energiewirtschaft hervorheben wollen. Der Umgang mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz muss erlernt und gelehrt werden. Schon in den 90er-Jahren hat der estnische Staat mit der Privatwirtschaft kooperiert, um Digitalisierungskurse für die gesamte Bevölkerung anzubieten. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die hinsichtlich der Altersstruktur der deutschen Gesellschaft ähnelt, in der jedoch die absolute Mehrheit keine Berührungsängste mit Online-Lösungen hat. Die Bürgerinnen und Bürger haben dadurch sehr hohe Erwartungen an die Nutzerfreundlichkeit digitaler Dienstleistungen. Die Behörden und Unternehmen versuchen, diese Erwartungen zu erfüllen. Das ist ein sehr gesunder Innovationskreislauf, der sich im Land etabliert hat.  

Ralf Jauch: Was dürfen wir von dir am 5./6. November auf der GO.DIGITAL 2024 erwarten? 

Florian Marcus: Klartext, Kritik und konstruktive Vorschläge – mit einer Prise Hoffnung. Deutschland verfügt über alle Zutaten, um eine erfolgreiche digitale Gesellschaft aufzubauen. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam den richtigen Weg einschlagen können.

Wir freuen uns, Florian Marcus als Keynote-Speaker auf der GO.DIGITAL begrüßen zu dürfen. Mehr Informationen erhalten Sie unter ➡️ GO.DIGITAL 2024.