Management-Brille – Stimmen aus der Geschäftsführerperspektive
Mit welchen direkten Auswirkungen angesichts der zugespitzten Krisensituation in den kommenden Monaten zu rechnen ist, auf welche Langzeitfolgen sich Energieversorger einstellen sollten und wie tragend die Rolle der Mitarbeitenden ist, schildern die Geschäftsführer der Energieforen im Beitrag.
Versorgungsunternehmen wurden zuletzt zunehmend mit schnellen und massiven Veränderungen konfrontiert, die mit Blick auf ihre Historie eher untypisch sind. Die Entwicklungen auf den Energiemärkten, die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine beschleunigt wurden, haben sowohl die Politik als auch die Branche nicht vorhergesehen. Tobias Frevel und Raphael Noack, Geschäftsführer der Energieforen, schildern in einem kurzen Interview nachfolgend ihre persönlichen Eindrücke und nehmen eine Einschätzung der gegenwärtigen Krisenüberlagerung vor.
Wir befinden uns aktuell in einer angespannten und unüberschaubaren wirtschaftlichen Lage. Der Ukraine-Krieg, in Verbindung mit einer folgenschweren Energiekrise, ist allgegenwärtig. Darüber hinaus beschäftigen den Markt die anhaltende Corona-Pandemie sowie die spürbaren Folgen des Klimawandels. Wie nehmt ihr die Krisensituation wahr?
Tobias Frevel: Die derzeitige Situation sehe ich als eine extreme Herausforderung für die Wirtschaft und privaten Haushalte. Hinzu kommen eine stark ansteigende Inflation und die Gefahr einer Gasmangellage sowie einer drohenden Stagflation. Eine solche Situation ist für alle handelnden Akteure eine besondere Herausforderung, da wir über keinerlei Referenzpunkte aus der jüngeren Vergangenheit verfügen.
Raphael Noack: Wichtig ist es aus meiner Sicht, dass Unternehmen wieder vermehrt Flexibilität im Unternehmensalltag verankern. Eine der Kernherausforderungen besteht darin, die Wandlungsfähigkeit herzustellen und sich mit den Mitarbeitenden und deren Belangen auseinanderzusetzen, denn diese stemmen die Last des Unternehmens in der Krise. Vor allem jene Mitarbeitenden, welche jetzt im direkten Kundenkontakt stehen, sind extrem gefordert. Sie stehen unter Druck und bedürfen gerade in diesen Zeiten einer intensiveren Zuwendung.
Mit welchen direkten Auswirkungen auf die Energiebranche rechnet ihr in den kommenden Wochen und Monaten?
Tobias Frevel: Die Auswirkungen auf die Branche werden sehr vielschichtig und in ihrem Ausmaß sowie der Dauer von verschiedenen externen Bedingungen abhängig sein. Für eine konkrete Einschätzung gilt es, bestimmte Szenarien anzunehmen. Unabhängig von den Gegebenheiten hinsichtlich einer – wie stark auch immer – veränderten Gasverfügbarkeit haben alle Szenarien eine gemeinsame Auswirkung: Wir werden auf vergleichsweise lange Sicht in den kommenden 1-2 Jahren mit sehr hohen und weiter steigenden Energiepreisen für Strom und Gas rechnen. Dies wird bedeutende Konsequenzen für die Endkundenmärkte und die möglichen Vertriebsstrategien haben.
Raphael Noack: In den nächsten Wochen wird es zu vermehrten Interaktionen mit den Kundinnen und Kunden kommen. Die hohen Energiepreise führen zwangsläufig zu Forderungsausfällen und Insolvenzen bzw. zur Drosselung von Produktionen, um Energie einzusparen. Die Liquiditätsengpässe werden sich bei Versorgungsunternehmen erhöhen und zu echten Risiken führen. Der Dreiklang aus Beschaffung, Preis- und Mengenkalkulation sowie Risikomanagement bedarf schneller Prozesse und Abstimmungsmechanismen. Der Versorger kann nicht alle, insbesondere nicht die sozialpolitischen, Folgen stemmen.
Immer häufiger ist derzeit die Rede von Ersatz-Energieträgern wie Kohle und Öl, insofern das Gas knapp wird. Das klingt nicht mehr nach Energiewende. Muss der Klimaschutz aufgrund der außenpolitischen Themen jetzt zurückgestellt werden?
Raphael Noack: Ein klares NEIN, denn der diesjährige Sommer hat uns mit seinen hohen Temperaturen und der Trockenheit wieder vor Augen geführt, wie wichtig der Umstieg auf erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Speicherung ist.
Jene Maßnahmen führen mittelfristig zu einer stärkeren Unabhängigkeit in der Energieversorgung als Kerninfrastruktur in einer Industrienation wie Deutschland. Aus meiner Sicht bedarf es eher einer Beschleunigung der Energiewende. Sicherlich ist es notwendig, für diesen und auch für den kommenden Winter, geeignete Maßnahmen für Energiesicherheit und Bezahlbarkeit zu ergreifen.
Tobias Frevel: Der reduzierten Verfügbarkeit müssen wir in jedem Fall Rechnung tragen und möglichst viel Gas ohne persönliche oder wirtschaftliche Einschränkungen einsparen. Vor diesem Hintergrund ist sicherlich die temporäre Priorisierung der Versorgungssicherheit vor der Nachhaltigkeit vertretbar. Die Diskussion über eine mögliche Verlängerung der AKW-Laufzeiten wäre hingegen aus dem Blick der kurzfristigen CO2-Vermeidung positiv, würde aber vermutlich eine langfristige Verlängerung mit sich bringen, die politisch, gesellschaftlich und im Sinne der Nachhaltigkeit nicht gewünscht ist.
Lassen sich aus diesen Entwicklungen bereits erste Prognosen zu möglichen
Langzeitfolgen ableiten?
Tobias Frevel: Langfristige Auswirkungen sehen wir in den unterschiedlichsten Feldern. Nehmen wir einmal die zuvor erwähnten höheren Endverbraucherpreise für Energie. Diese führen bereits heute zu einer stärkeren Nachfrage nach energetischer Beratung, alternativen Heizsystemen wie Luft-Wärmepumpen oder Lösungen hin zur persönlichen Energieautarkie. All diese Entwicklungen werden die Veränderung bei den Versorgern deutlich schneller als bislang vielleicht erwartet und gewünscht nach vorne treiben. Für die Branche zeichnet sich ein zentraler Trend ab, der die Unternehmen sehr positiv verändern wird. Die Entwicklung hin zu echten Dienstleistungsunternehmen wird dabei deutlich forciert. Die Anforderungen an Service, Portfolio und Fähigkeiten der Mitarbeitenden werden die Unternehmen zu vergleichsweise schnellen kulturellen, organisatorischen und prozessualen Veränderungen führen.
Raphael Noack: Ich möchte hier ergänzen, dass dafür der Umbau zu einem „echten“ Dienstleistungsunternehmen notwendig wird. Das bedeutet insbesondere ein Umbau des Geschäfts- und Erlösmodells, die Einführung von kundenzentrierten, digitalen Prozessen und Organisationsstrukturen sowie einem Shift im Mindset. Gemeinsam mit unserer Stiftungsprofessur an der HHL für Digital Innovation in Service Industries werden wir uns im kommenden Jahr dazu widmen. Aus meiner Sicht sind jedoch zwei weitere bedeutende Folgen zu benennen. Mit dem stärkeren Umbau hin zu Energiedienstleistungen wird es wichtig sein, die benötigten Materialien zur Verfügung zu haben, von der Wallbox bis hin zur PV-Anlage sowie dem Smart Meter. Auf der anderen Seite der Ausbau der Wertschöpfungstiefe, also die Sicherstellung, dass ausreichend Fachleute im Handwerk und technisches Know-how auf allen Ebenen, sei es von der Planung bis hin zum Service, zur Verfügung stehen. In Zeiten des Fachkräftemangels wird dies zum kritischen Erfolgsfaktor!
Welche konkreten Handlungsempfehlungen möchtet ihr den Versorgungsunternehmen mit an die Hand geben?
Raphael Noack: Nicht die Größten, sondern die Wandlungsfähigsten werden überleben. Was schon in der Evolution galt, trifft auch im Speziellen für die aktuelle Situation zu. Die Mitarbeitenden in den Fokus zu stellen, ist gerade jetzt wichtiger denn je. Um die künftigen Herausforderungen zu meistern, ist es unumgänglich, eine entsprechende Kultur zu etablieren und den Menschen im Unternehmen den Sinn ihrer Tätigkeiten aufzuzeigen und diese mitgestalten zu lassen.
Tobias Frevel: Es wird sicherlich hilfreich sein, in dieser turbulenten Zeit eine zügige Umsetzung der Veränderungen anzugehen, da die Menschen ein deutlich höheres Maß an Veränderungsbereitschaft mit sich bringen. Eine klare Ausrichtung der Vertriebe auf ein serviceorientiertes Portfolio von Non-Commodity-Leistungen, die Etablierung der notwendigen Werkzeuge wie Segmentierung, Schaffung eines 360-Grad-Kundenblicks über die Querverbundsparten sowie Produktbündelung zwischen Energie, ÖPNV und Telekommunikation werden positiv auf die Marktposition einzahlen.