Psychologie to go: Soziale Bewährtheit – Warum wir tun, was alle tun

Change nach Schema F? Wie Sie im Change- Management den psychologischen Effekt sozialer Bewährtheit erkennen – und bewusst gegensteuern. Mehr dazu im neuen Beitrag unserer Reihe.

Typ:
Blogartikel
Rubrik:
Unternehmensorganisation
Themen:
Personal (Human Resources) Unternehmenskultur Unternehmensorganisation
Psychologie to go: Soziale Bewährtheit – Warum wir tun, was alle tun

Wahrscheinlich haben Sie es auch schon erlebt: Sie schlendern durch eine unbekannte Stadt, suchen ein Café – und entscheiden sich instinktiv für das, vor dem eine Schlange steht. „Da muss es gut sein“, denkt man. Oder Sie bestellen im Restaurant „das, was die anderen am Tisch nehmen“. Was wie eine kleine Entscheidung am Rande aussieht, ist in Wirklichkeit ein tief verankerter psychologischer Mechanismus: soziale Bewährtheit.

Die Kraft der Gruppe

Der Begriff „soziale Bewährtheit“ (engl. social proof) beschreibt unsere Tendenz, das Verhalten anderer Menschen als Hinweis darauf zu nutzen, was richtig, sinnvoll oder angemessen ist – besonders dann, wenn wir unsicher sind.

Wir orientieren uns an der Masse, weil wir glauben, dass viele Menschen nicht irren können. In gewisser Weise sparen wir dadurch kognitive Energie: Warum mühsam selbst abwägen, wenn die Mehrheit doch offenbar schon „weiß“, was richtig ist?

Ein Klassiker: Das Elevator-Experiment

Ein anschauliches Beispiel liefert das berühmte Elevator-Experiment aus den 1960er-Jahren. Versuchspersonen stiegen in einen Aufzug ein, in dem bereits mehrere Schauspieler standen – mit dem Gesicht zur Rückwand des Aufzugs, statt zur Tür. Nach kurzer Irritation drehten sich die meisten Probandinnen und Probanden ebenfalls zur Wand. Sie hatten keinen sachlichen Grund – außer dem Verhalten der Gruppe.

Das zeigt: Je unsicherer wir sind oder je unbekannter die Situation, desto stärker orientieren wir uns am Verhalten anderer.

Vom Kaufverhalten bis zur Klimawende

Soziale Bewährtheit ist aus psychologischer Sicht ein starkes Werkzeug – in beide Richtungen. Sie kann uns helfen, in komplexen Situationen schnell zu handeln. Gleichzeitig kann sie uns manipulativ beeinflussen. Werbung nutzt diesen Mechanismus gezielt: „95 % der Kunden empfehlen uns weiter“ oder „Meistverkauft im März“ – das ist keine neutrale Information, sondern psychologischer Druck im Schafspelz.

Aber auch in großen gesellschaftlichen Fragen spielt soziale Bewährtheit eine Rolle. Wenn immer mehr Menschen mit dem Rad zur Arbeit fahren, gewinnt diese Verhaltensweise an sozialer Akzeptanz. Es entsteht ein neuer „Normalzustand“, der wiederum noch mehr Menschen beeinflusst – ein positiver Dominoeffekt.

Change-Management nach Schema F – Wenn sich soziale Bewährtheit gegen uns richtet

Ein besonders relevantes Beispiel für soziale Bewährtheit im beruflichen Kontext findet sich im Change-Management. Immer wieder beobachten wir, dass bei Veränderungen in Organisationen als Erstes das Organigramm angepasst wird. Neue Kästchen, neue Linien, neue Verantwortlichkeiten – in der Hoffnung, dass sich dadurch wirklich etwas verändert.

Das Kuriose daran: Dieses Vorgehen wurde schon unzählige Male ausprobiert – oft ohne durchschlagenden Erfolg. Mitarbeitende erleben solche Änderungen häufig als oberflächlich oder symbolisch. Dennoch wird diese Methode immer wieder angewendet. Warum? Weil sie weit verbreitet ist. Große Beratungshäuser empfehlen sie regelmäßig, viele Organisationen folgen dem Beispiel – ganz im Sinne der sozialen Bewährtheit: Wenn es alle machen, wird es wohl richtig sein.

Genau hier zeigt sich die Kehrseite dieses psychologischen Mechanismus. Anstatt aus bisherigen Erfahrungen zu lernen, verlassen wir uns auf die scheinbare Sicherheit kollektiver Gewohnheit. Dadurch werden echte Beteiligung, kultureller Wandel oder kreative Alternativen oft gar nicht erst gedacht. Die Orientierung an der Masse verhindert Veränderung – ausgerechnet dort, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

Wie wir soziale Bewährtheit erkennen – und nutzen

Um den Effekt bewusst zu reflektieren oder sogar für sich (und andere) positiv zu nutzen, helfen folgende Impulse:

  1. Sich fragen: Wieso will ich das gerade?
    Orientieren Sie sich gerade an anderen, weil Sie unsicher sind – oder weil Sie tatsächlich diese Entscheidung treffen wollen?
  2. Sichtbarkeit erzeugen
    Wenn Sie ein bestimmtes Verhalten fördern wollen (z. B. in Ihrem Team oder Unternehmen), machen Sie es sichtbar! Wenn jemand eine gute Idee hatte, sprechen Sie drüber. Wenn jemand ein nachhaltiges Projekt gestartet hat, zeigen Sie es. Sichtbares Verhalten wird schneller zum Vorbild.
  3. Gruppendruck bewusst entschärfen
    In Teams, Workshops oder Entscheidungsrunden: Lassen Sie zuerst die stille Mehrheit sprechen – nicht die lauteste Stimme. So verhindern Sie, dass sich alle an der vermeintlich „richtigen“ Meinung orientieren.

Fazit:
Wir alle wollen dazugehören – und das ist völlig normal. Aber gerade deshalb lohnt es sich, bei der nächsten Gruppenentscheidung innezuhalten: Will ich das wirklich, oder will ich einfach dazugehören?

Quellen zum Weiterlesen:
Kahnemann, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag.
Cialdini, R. (2001). Die Psychologie des Überzeugens. BusinessVillage Verlag.
Dobelli, R. (2014). Die Kunst des klaren Denkens. Piper Verlag.