Kommunikation und Marketing in Krisenzeiten: Was sagt die Wissenschaft?

Preisbremse, Inflation und negative Schlagzeilen: Um beurteilen zu können, wie sich Krisenzeiten auf die Bereiche Kommunikation und Marketing auswirken, lassen wir in diesem Beitrag Hochschullehrende unseres Netzwerkes zu Wort kommen.

Typ:
Blogartikel
Rubrik:
Marketing und Vertrieb
Themen:
Unternehmenskommunikation Marketing Marke Kundenbindung
Kommunikation und Marketing in Krisenzeiten: Was sagt die Wissenschaft?

Low Involvement, Preisbremse und Vertriebsstopp – Braucht es eigentlich noch Marketing in Energieversorgungsunternehmen (kurz: EVU)? Inwiefern?

„Mehr denn je“, meint Heiko Auerbach, Professor für Entrepreneurship & Sales an der Hochschule Stralsund. Marketing sei eben nicht nur Verkauf im engeren Sinne, sondern beinhalte das aktive Gestalten von Märkten und Kundenbeziehungen. Da es sich dabei um komplexe und dynamische Systeme handelt, die permanenten Veränderungen unterliegen, könne Marketing ebenfalls als Diskontinuitäten- bzw. Krisenmanagement verstanden werden. Es gehe um den Aufbau starker Marken, die einen emotionalen Mehrwert wie Vertrauen und Sicherheit bieten. Die jetzige Zeit weise sehr viele Krisen auf. „In ihrer Stärke und Geballtheit ist das eine neue Dimension“, erörtert Prof. Dr. Auerbach. „Was wir jetzt brauchen, sind richtige Krisenkapitäne und Change Manager, von denen innovative Impulse ausgehen und die alle Stakeholder mit an Bord nehmen.“ Bei schönem Wetter könne jede Person ein Schiff steuern. Um bei rauen Wetterbedingungen und Wellengang ein Schiff führen zu können, brauche es hingegen Profis ihres Fachs.

Prof. Dr. Manfred Uhl lehrt Marketingmanagement an der Hochschule Augsburg und bringt weitere Aspekte ein: Marketing brauche es immer, da es die Unternehmenssprache sei. Unter dem Schlagwort Low Involvement differenziert Prof. Uhl und zeigt gleichermaßen eine Chance auf: Zwar müsse das Commodity-Geschäft im Bereich des geringen Involvements eingeordnet werden, jedoch fielen Energiedienstleistungen unter den Aspekt des High Involvements. EVU bräuchten nun einen Mix beider Produktwelten, um, neben dem Commodity-Geschäft, eine zweite Säule für ihren Geschäftserfolg aufzubauen.

Was passiert, wenn wieder Wettbewerber mit Dumpingpreisen in den Markt eintreten? Wie können Energieversorger diesbezüglich ihre Kundenbindung erhöhen?

Entscheidend für die Abgrenzung zu Discountern werde die strategische Positionierung sein, stellt Prof. Uhl fest. Gegenüber den Anbietern im untersten Preissegment sieht er die lokale Verbundenheit der regional verankerten EVU als bedeutenden Faktor und leitet daraus die Wichtigkeit des Engagements vor Ort ab. Auch Verlässlichkeit sollten EVU in ihrer Kommunikation herausstellen.

Dr. Sandra Dijk, Executive Director des Center for Leading Innovation & Cooperation (CLIC) an der HHL Leipzig Graduate School of Management, ergänzt mögliche Strategien, um in dieser Situation die Kundenbindung zu erhöhen:

  • Qualität und Service verbessern: schnelle Reaktionszeiten bei Anfragen und Beschwerden, Tarife transparent gestalten, Kundschaft mit nützlichen Informationen und Tipps versorgen
  • innovative Produkte und Dienstleistungen anbieten, die über den reinen Strom- und Gasbezug hinausgehen
  • Treueprogramme und Kundenbindungsinstrumente einsetzen
Viele Menschen sitzen in einem Hörsaal

Durch die mediale Berichterstattung der vergangenen Monate assoziieren viele Verbrauchende negative Schlagzeilen mit EVU. Welche Maßnahmen aus den Bereichen Markenstrategie und Kommunikation helfen dabei, die Marke in dieser Zeit zu stärken?

„Ich sehe kaum – eigentlich gar nicht – Vorstände von Unternehmen beispielsweise in Talkshows, wenn es um Themen wie Energie geht“, stellt Prof. Auerbach fest. Solche öffentlichen Auftritte dienten jedoch dem Aufbau von Sympathie und Verständnis. Es gehe darum, „das Ganze zu personifizieren“, sodass nicht mehr das Unternehmen allein im Mittelpunkt stehe, sondern Menschen, die diese repräsentieren. Man müsse dem Unternehmen ein Gesicht geben. Prominente Beispiele kämen vor allem aus dem amerikanischen Raum, wo Repräsentierende großer Unternehmen häufiger in renommierten Talkshows zu Gast seien. Bill Gates und Steve Jobs seien namhafte Beispiele, wobei ersterer sicher nicht zufällig zu Beginn des Weihnachtsgeschäftes bei „Wetten, dass…?“ aufgetreten sei. In Deutschland sehe man es zwar seltener, doch Dieter Zetsche, ehemaliger Vorstand von Mercedes Benz, sowie auch Wolfgang Grupp, Geschäftsführer von Trigema, verstünden die Wichtigkeit, ihrem Unternehmen ein Gesicht zu geben. So sei Dieter Zetsche auch für unterhaltsame Video-Botschaften an sein Team zum Weihnachtsfest bekannt.

Prof. Uhl ergänzt an dieser Stelle, dass die Marke weiter präsent bleiben müsse. Sowohl nach innen als auch nach außen, sollte die Markenidentität gestärkt werden. Eine glaubwürdige Kommunikation in beide Richtungen sei fundamental.

Inflation in Rekordhöhe, Krieg in Europa und Klimawandel – Welche Auswirkungen hat(te) all das auf die Konsumierenden?

„Grundsätzlich gibt es viele unterschiedliche Theorien und auch Studien zur Reaktion von Nachfragern auf Krisen“, erklärt Prof. Dr. Florian Siems, Professur für BWL, insbesondere Marketing, von der Technischen Universität Dresden. „Ein Beispiel für verändertes Konsumentenverhalten ist der Lipstick-Effekt: Menschen in unserem Kulturkreis neigen oft dazu, sich in Krisensituationen Kleinigkeiten, eben z. B. einen Lippenstift – daher der Name – zu gönnen, gerade wenn gleichzeitig größere Ausgaben, wie z. B. der Kauf eines Autos, eher verschoben werden. Das klingt zunächst vor allem nach Konsequenzen für das Konsumgütermarketing, ich sehe es aber deutlich weiter gefasst.“ Der Lipstick-Effekt sei auch für den Dienstleistungsbereich und die Energiebranche relevant, so Prof. Siems: „Man sollte sich meiner Einschätzung nach in allen Branchen darüber im Klaren sein, dass dieser Effekt den Wunsch des Kunden nach kleinerer, kurzer Freude stiftenden Dingen erhöht, während der nach größeren Investitionen gegebenenfalls geringer ist.“ Gleichzeitig gebe es noch andere Effekte, die den genannten verstärkten, ihm aber auch entgegenwirken könnten. Hinsichtlich des Themas Energie sei dies beispielsweise der mögliche Wunsch nach alternativen Energieformen.

Neben der (kurzfristigen) Kaufneigung der Kundschaft gebe es noch einen Effekt, der gerade bei Dienstleistungen starke und, nach der Einschätzung von Prof. Siems, ebenso langfristige Wirkungen haben könne: „Krisenbedingter Stress kann insbesondere emotionale Wahrnehmungen und aus Sicht des Marketings konkret, aktuelle Wahrnehmungen hinsichtlich der Kundenzufriedenheit und der Kundenbindung deutlich verstärken.“ Entsprechend bestehe für Unternehmen in einer Krisenzeit immer das Risiko, durch Fehlverhalten gegenüber Kundinnen und Kunden besonders großen Schaden für die Beziehung anzurichten. Gleichzeitig sei aber jede Krise eine Chance, dass positives Verhalten besonders stark und somit vor allem langfristig wirke.

Gießkanne lässt Geld auf einen Baum regnen

Lassen sich aus den sich überlagernden Krisen (Energiekrise, COVID-19-Pandemie, Klimakrise) heraus neue Trends in Marketing und Kommunikation beobachten?

Die Bedeutung von Sicherheit und Verlässlichkeit sei gestiegen, meint Prof. Uhl. Das spiele EVU in die Karten, da dies ein Teil ihrer Kernwerte sei. Die aktuellen Krisen erhielten in gesellschaftlichen Diskussionen einen immer größeren Raum. Dies ließe sich insbesondere hinsichtlich der COVID-19-Pandemie und dem Thema Nachhaltigkeit beobachten, worauf EVU reagieren müssten. Ein Öko-Tarif allein sei nicht mehr ausreichend. Überdies habe die deutsche Infrastruktur Aufholbedarf – ein Ansatzpunkt für den regionalen Querverbund.

Dr. Dijk erkennt vor allem den durch die Pandemie beschleunigten Trend zur Digitalisierung und Online-Präsenz in der Geschäftswelt: „Unternehmen sahen sich gezwungen, ihre Geschäftsmodelle schnell an die neuen Bedingungen anzupassen und verstärkt digitale Vertriebs- und Marketingkanäle zu nutzen. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen.“

Auf einen Trend, den es schon vor den genannten Krisen gab, der dadurch aber klar verstärkt wurde, weist Prof. Siems hin: Das Purpose-Marketing habe an Relevanz gewonnen. Die Diskussion darum, ob und wie Unternehmen auch politisch Stellung beziehen sollten, sei intensiviert worden. Zumindest von einem Teil der Kundschaft werde dies zunehmend erwartet. Gleichzeitig würde kritisch hinterfragt, was real oder „nur ‚Washing‘“ ist, stellt Prof. Siems heraus. „Auch das ist entsprechend wieder eine besondere Chance – aber wenn man es falsch macht, natürlich auch ein besonderes Risiko. Unternehmen sind daher besonders gefordert, nochmal über ihren Purpose nachzudenken und diesen zu kommunizieren. Letzteres ganz klar mit dem nötigen Augenmaß für die Realität und ohne etwas zu beschönigen.“

Herzlichen Dank an unsere wissenschaftlichen Partnerinnen und Partner: 

Prof. Dr. Heiko Auerbach
Prof. Dr. Heiko Auerbach
Lehrgebiet Entrepreneurship & Sales
Hochschule Stralsund
Dr. Sandra Dijk
Dr. Sandra Dijk
Senior Researcher
CLIC – Center für Leading Innovation & Cooperation
Prof. Manfred Uhl
Prof. Dr. Manfred Uhl
International Marketing & Communication
Hochschule Augsburg
 Prof. Dr. Florian Siems
Prof. Dr. Florian Siems
Professur für BWL | Schwerpunkt Marketing
Universität Dresden